Ungleiche Bildungschancen

Wettbewerb

(Auszug aus der Wettbewerbsdokumentation)

Out of Balance – Kritik der Gegenwart ist die Publikation zum gleichnamigen Wettbewerb, den ARCH+ zusammen mit der Stiftung Bauhaus Dessau 2012 ausgeschrieben hatte. ARCH+ Abonnenten erhalten die üppig ausgestattete Publikation mit 240 Seiten als ARCH+ 213 im Rahmen ihres Abonnements.

Autoren

Klaus Hackl, Horan Lee, Dirk Schmidt, Dominik Schwarz und Kajetan Hinner

Vielen Dank an Jaume Martorell und Viola Wengler

Veröffentlicht unter

Erschienen in ARCH+ 213, Seiten 132-133

Link: http://www.archplus.net/home/archiv/artikel/46,4088,1,0.html

Links zu den vier Poster-Seiten - der eigentliche Kern unseres Beitrags

  1. Bildungschancen Deutschland: Übertritte auf das Gymnasium / Schulabgänger ohne Abschluß
  2. Bildungschancen Bayern: Übertritte auf das Gymnasium / Schulabgänger ohne Abschluß
  3. Bildungschancen München: Sprengel mit den niedrigsten Übertrittsquoten / Sprengel mit den höchsten Übertrittsquoten
  4. Ausstellungskonzept Infographik (Männchen im Stadtbild mit Barcode: Skulptogramme)

Erläuterung

Idee und thematische Einbettung

Die Gewährleistung gleicher Bildungschancen für alle stellt eine wesentliche Legitimationsgrundlage und einen zentralen Stützpfeiler für eine leistungsgerechte Gesellschaft dar. Für Deutschland wie für die meisten westlichen Staaten gilt das meritokratische Leitbild einer Gesellschaft, die sozialen Status überwiegend aufgrund persönlicher Verdienste verteilt („jeder ist seines eigenen Glückes Schmied“).

Leistungsunabhängige Faktoren bzw. askriptive Merkmale, die sich auf den Bildungs- und Statuserwerb auswirken, werden im Selbstverständnis einer (bürgerlich) aufgeklärten Moderne nicht als gerechtfertigt anerkannt und daher gerade von bildungsprivilegierten Eliten meist verschleiert. Auf der anderen Seite verkennen insbesondere die sogenannten Bildungsverlierer den Einfluss ihrer sozialen Lage auf den Schulerfolg und schreiben ihre unterdurchschnittlichen Leistungen und/oder minderwertigen bzw. gar nicht erreichten Bildungszertifikaten in erster Linie ihrem persönlichen Versagen zu.

Ob der Geburts- und Wohnort eines Kindes in Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern oder Bayern liegt, es auf dem Land oder inmitten eines städtischen Ballungsraumes aufwächst, im urbanen Bahnhofsviertel oder dem ‚Speckgürtel‘ einer süddeutschen Metropole zuhause ist – all diese sozialräumlichen Faktoren sollten sich, nach dem Gleichheitspostulat unserer Demokratie, weder entscheidend auf die Schullaufbahn noch auf den Schulabschluss niederschlagen.

Die Verortung von Kindern und Jugendlichen in ihrem Bildungs- und Lebensraum liegt weitgehend außerhalb ihres eigenen Verantwortungsbereiches und gerade deshalb offenbaren sich, wie wir in unserem Wettbewerbsbeitrag zeigen wollen, darin die systembedingten Ungleichheiten in der deutschen Schullandschaft.

Weder vermeintliche Faktoren wie der kontrovers diskutierte ‚Migrationshintergrund‘ von Schülern, noch so fragwürdige Begründungen wie angeborene Intelligenz- oder Begabungsunterschiede oder gar der reine Zufall können die Ungleichgewichte und Benachteiligungen in unserem drei- und viergliedrigen Schulsystem zufriedenstellend erklären.

Deshalb wollen wir den Blick auf die wohn- und schulortabhängigen Einflussfaktoren richten, die mindestens zwei wichtige ‚Weichen‘ für den individuellen Bildungserfolg sowie -misserfolg stellen:


Weiche 1: Der in der 5. Klasse, teilweise aber auch erst bis zur 8. Jahrgangsstufe vollzogene Wechsel in eine weiterführende Schule. Dabei zeigt der Übertritt auf das Gymnasium den größten Schulerfolg an und begünstigt den weiteren Bildungsweg am stärksten.

Weiche 2: Der nach Ablauf der Schulpflicht von Abgängern erreichte Bildungsabschluss. Dabei müssen insbesondere diejenigen als Bildungsverlierer gelten, die bis zu diesem Zeitpunkt gar keinen Schulabschluss erlangt haben.

Unsere Betrachtung fokussiert über drei räumliche Dimensionssprünge, um die Auswirkungen wohn- und schulortabhängiger Disparitäten im Bildungssystem sichtbar zu machen.

Im nationalstaatlichen Kontext werden ausgewählte Bundesländer miteinander verglichen. Eine Ebene tiefer fokussieren wir auf Bayern, das in innerdeutschen Schulvergleichen als besonders erfolgreich gilt, um die Bildungschancen in bestimmten Landkreisen und kreisfreien Städten gegenüberzustellen. Schließlich nehmen wir die bayerische Landeshauptstadt München in den Blick, um beim Vergleich einzelner Stadtbezirke ein doch beträchtliches Maß an Heterogenität bezüglich der realen Bildungschancen aufzuzeigen.

Bleibt die Frage nach den Gründen für die Ungleichgewichte in den Erfolgs- und Misserfolgsquoten von Schülern an unterschiedlichen Wohn- und Schulorten. Einfache monokausale Zusammenhänge statistischer Art stellen hier ebenso wie ad hoc eingeführte Plausibilitätsannahmen problematische Verkürzungen dar. Dennoch gibt es verschiedene empirisch fundierte Hinweise aus der bildungssoziologischen Forschung, die Ansatzpunkte dafür liefern, worauf die Effekte der sozio-geografischen Herkunft auf die variierenden Ausprägungen von Bildungsreichtum bzw. -armut zurückgeführt werden können. Maßgeblich wollen wir uns an den macht- und ressourcentheoretischen Arbeiten des französischen Soziologen Pierre Bourdieu orientieren, der die ‚Vererbbarkeit‘ von Bildung mit der familialen Ausstattung mit ökonomischem, kulturellem und sozialem Kapital gesellschaftlicher Milieus erklärt. Dabei konzentrieren wir uns zugunsten einer klaren grafischen Darstellungsform auf das ökonomische Kapital (ohne damit die zweifelsfrei auch vorhandene Bedeutung der anderen beiden Kapitalsorten für den Bildungskontext in Abrede zu stellen), welches auch in Bourdieus Konzeption einen herausragenden Stellenwert einnimmt.

Für den Bildungsbereich ist dessen förderliche Wirkung für die Kompetenzentwicklung in vielfältiger Weise unmittelbar einsichtig: Eltern mit einem hohen Einkommen haben meist selbst höhere Bildungsabschlüsse und können ihre Kinder beim Lernen besser unterstützen, in der Regel hat zumindest ein Elternteil auch mehr Zeit dafür zur Verfügung oder es gibt ausreichend finanzielle Mittel, um externe Nachhilfe zu gewährleisten. Neben solchen sogenannten primären Herkunftseffekten bestehen zudem sekundäre, institutionelle Wirkungen, die auch stark mit der ökonomischen Situation in der Familie zusammenhängen: Sowohl Eltern als auch Lehrer tendieren dazu, das tatsächliche Leistungsvermögen von Schülern gemäß ihrem familiären sozialen Status über- oder unterzubewerten, d.h. Entscheidungen zum Übertritt in weiterführende Schulen sind von Milieuzugehörigkeiten stark beeinflusst. Hinzu kommt, dass insbesondere die frühe Selektion im deutschen Schulsystem solche soziale Ungleichheit reproduzierenden oder sogar verstärkenden primären und sekundären Herkunftseffekte auf den Erwerb von Schulbildung und -abschlüssen zusätzlich befördert.

Um den Faktor des verfügbaren ökonomischen Kapitals in Familien abzubilden, haben wir ab der Ebene Bayern zu den Informationen über die beiden ‚Bildungsweichen‘ noch Angaben zum durchschnittlichen verfügbaren Einkommen pro Haushalt hinzugefügt. Für München wird komplementär dazu noch die ‚Dichte der Einwohner im ALG II-Bezug‘ in den betrachteten Stadtbezirken angezeigt.

In exakt welchem Maße es an der frühen Selektion, an der Unterfinanzierung (besonders frappierend im Primarbereich), an den Bildungskonzepten unterschiedlicher politischer Lager, den Deutschkenntnissen der Mitschüler, der Klassengröße oder der Bezahlung und der Motivation der Lehrer liegt, muss unbeantwortet bleiben.

Statistisches Datenmaterial

Um empirische Belege zu finden, mussten wir in erster Linie auf öffentlich frei oder nach Anmeldung zugängliche Statistiken zurückgreifen – denn fast ausnahmslos erhielten wir keine oder abschlägige Antworten auf unsere Bitten nach Sekundäranalysen. Die wichtigsten Quellen waren:

Ein Antrag auf Sekundäranalyse des IQB 2009 (Institut zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen) wurde von der HU Berlin abgelehnt („eine wissenschaftliche und nicht-kommerzielle Nutzung ist nicht gegeben“).

Damit wir auf allen drei Ebenen zumindest grob vergleichbare Daten präsentieren können, verwendeten wir nach Möglichkeit Daten aus nicht zu weit auseinanderliegenden Zeiträumen. Die Transformation der Daten erfolgte nach statistischen und darstellerischen Kriterien und auch in Abhängigkeit vom Untersuchungsobjekt (z.B. Repräsentanz von einem oder drei Prozent pro Figur). Ausreißer wie z.B. die Schulen mit den höchsten und niedrigsten Übertrittsquoten in München, wurden zum Teil nicht berücksichtigt. Herausgegriffen wurden etwa bei den Landkreisen die gegenüberliegenden Pole, damit die einfache Auffassung der visualisierten Daten nicht unter einer Vielzahl von Werten leidet.


Detaillierter Quellennachweis



Bei besonders frappierenden Zahlen haben wir in einigen Fällen bei den Autoren nachgefragt, fast ausnahmslos wurden die publizierten Statistiken bestätigt. Statistische Ungenauigkeiten im Indikatorenatlas der Stadt München wurden auf Nachfrage korrigiert oder in unserem Wettbewerbsbeitrag nicht verwendet.


Last changes: December 26th, 2014
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